Conrad Ferdinand Meyer: Zitate

Schwarzschattende Kastanie,
Mein windgeregtes Sommerzelt,
Du senkst zur Flut dein weit Geäst,
Dein Laub, es durstet und es trinkt,

Schwarzschattende Kastanie (1882)

Heute fanden meine Schritte mein vergessnes Jugendtal,
Seine Sohle lag verödet, seine Berge standen kahl.
Meine Bäume, meine Träume, meine buchendunkeln Höhn –
Ewig jung ist nur die Sonne, sie allein ist ewig schön.

Drüben dort in schilf’gem Grunde, wo die müde Lache liegt,
Hat zu meiner Jugendstunde sich lebend’ge Flut gewiegt,
Durch die Heiden, durch die Weiden ging ein wandernd Herdgetön –
Ewig jung ist nur die Sonne, sie allein ist ewig schön.

Ewig jung ist nur die Sonne (1892)

Aufsteigt der Strahl und fallend gießt
Er voll der Marmorschale Rund,
Die, sich verschleiernd, überfließt
In einer zweiten Schale Grund;
Die zweite gibt, sie wird zu reich,
Der dritten wallend ihre Flut,
Und jede nimmt und gibt zugleich
Und strömt und ruht.

Der römische Brunnen

Genug ist nicht genug! Gepriesen werde
Der Herbst! Kein Ast, der seiner Frucht entbehrte!
Tief beugt sich mancher allzu reich beschwerte,
Der Apfel fällt mit dumpfem Laut zur Erde.

Genug ist nicht genug! Es lacht im Laube!
Die saftge Pfirsche winkt dem durstgen Munde!
Die trunknen Wespen summen in die Runde:
„Genug ist nicht genug!“ um eine Traube.

Genug ist nicht genug! Mit vollen Zügen
Schlürft Dichtergeist am Borne des Genusses,
Das Herz, auch es bedarf des Überflusses,
Genug kann nie und nimmermehr genügen!

Fülle

Ich lag im Gras auf einer Alp,
In sel’ge Bläuen starrt’ ich auf –
Mir war als ob auf meiner Brust
Mich etwas sacht belastete.
Ich blickte schräg. Ein Falter saß
Auf meinem grauen Wanderkleid.
Mein Seelchen war’s. So lernt’ ich einst
In Rom an einem Basrelief.
Wie sieht es aus? Das wüßt’ ich gern,
Ich blinzle mein Gewand entlang –
Blank war’s, betupft mit Tropfen Bluts.

Das Seelchen (1882)

Ölbaumsilber, Myrte, Lorbeer, Pinie,
Bald im Schnee der Heimat denk ich euer –
Sanfte Buchten, blaue Meereslinie,
Auf dem Abend dunkelnd Burggemäuer!
Aus der Schlucht erstrahlend Hirtenfeuer!

Abschied von Korsika

Möwen sah um einen Felsen kreisen
Ich in unermüdlich gleichen Gleisen,
Auf gespannter Schwinge schweben bleibend,
Eine schimmernd weiße Bahn beschreibend,
Und zugleich in grünem Meeresspiegel
Sah ich um dieselben Felsenspitzen
Eine helle Jagd gestreckter Flügel
Unermüdlich durch die Tiefe blitzen.
Und der Spiegel hatte solche Klarheit,
Daß sich anders nicht die Flügel hoben
Tief im Meer, als hoch in Lüften oben,
Daß sich völlig glichen Trug und Wahrheit.

Möwenflug

Reife Goldorangen fallen sahn wir heute, Myrte blühte,
Eidechs glitt entlang der Mauer, die von Sonne glühte.

Uns zu Häupten neben einem morschen Laube flog ein Falter –
Keine herbe Grenze scheidet Jugend hier und Alter.

Weihnacht in Ajaccio

Morgengraun. Die Karawane windet sich dem Nil zur Seite,
Eine Rede dröhnt und murmelt über dunkler Stromesbreite.
Längs dem Ufer nippen durstig silbergraugeperlte Tauben,
Trinken Ibisse mit blankem Flügelpaar und schwarzen Hauben.

Der Stromgott