Robert Musil: Zitate

Die Fenster schienen keine Vorhänge zu haben, so stark drang durch die Scheiben das Weiß der Schneeflächen herein. In diesem gnadenlosen Licht, das alle Gegenstände umzingelte, stand Clarisse und sah von der Zimmermitte aus lachend ihrem Freund entgegen. Wo sich die flache Wölbung ihres schmalen Körpers gegen das Fenster bog, leuchtete sie in starken Farben, während die Schattenseite blaubrauner Nebel war, aus dem Stirn, Nase und Kinn wie ein Schneegrat hervorsprangen, dessen Schärfe Wind und Sonne verwischen. Sie erinnerte weniger an einen Menschen als an die Begegnung von Eis und Licht in der gespenstigen Einsamkeit des Hochgebirgswinters.

Der Mann ohne Eigenschaften, 82: Clarisse verlangt ein Ulrich-Jahr

Freilich schien es dem General, daß dies ebensowenig wörtlich zu nehmen sei wie alles andere, was gesprochen wurde. »Wenn heute der Erlöser zurückkehren möchte,« sagte er sich »so würden sie seine Regierung ebenso stürzen wie jede andere!« Nach seiner persönlichen Erfahrung vermutete er, daß dies davon komme, daß die Leute zuviel Bücher und Zeitungsartikel schrieben. »Wie gescheit ist die militärische Vorschrift,« dachte er »die es den Offizieren verbietet, Bücher zu schreiben, ohne besondere Erlaubnis ihrer Obrigkeit.« Er erschrak ein wenig darüber, eine so heftige Loyalitätsanwandlung hatte er schon lange nicht erlebt. Ohne Zweifel, er selbst dachte zuviel! Das kam von der Berührung mit dem zivilistischen Geist; der zivilistische Geist hatte den Vorteil, eine feste Weltanschauung zu besitzen, offensichtlich verloren. Das erkannte der General deutlich, und dadurch zeigte sich ihm das ganze Gerede vom Erlösen jetzt auch noch von einer anderen Seite. General Stumms Geist wanderte zu den Erinnerungen an empfangene Religions- und Geschichtsstunden zurück, um diesen neuen Zusammenhang aufzuklären; es läßt sich schwer sagen, was er sich dabei dachte, aber wenn man es aus ihm herausgehoben und sorgfältig geglättet hätte, würde es wohl ungefähr so ausgesehen haben: Um mit dem kirchlichen Teil kurz zu beginnen, solange man an Religion glaubte, konnte man einen guten Christen oder frommen Juden hinunterstürzen, von welchem Stockwerk der Hoffnung oder des Wohlergehens man wollte, er fiel immer sozusagen auf die Füße seiner Seele. Das kam davon, daß alle Religionen in der Erläuterung des Lebens, die sie dem Menschen schenkten, einen irrationalen, unberechenbaren Rest vorgesehen hatten, den sie Gottes Unerforschlichkeit nannten; ging dem Sterblichen die Rechnung nicht auf, so brauchte er sich bloß an diesen Rest zu erinnern, und sein Geist konnte sich befriedigt die Hände reiben. Dieses Auf die Füße Fallen und Sich die Hände Reiben nennt man Weltanschauung, und das hat der zeitgenössische Mensch verlernt. Er muß sich entweder des Nachdenkens über sein Leben ganz entschlagen, woran sich viele genugtun, oder er gerät in jenen sonderbaren Zwiespalt, daß er denken muß und scheinbar doch nie recht damit zum Ende der Zufriedenheit gelangen kann. Dieser Zwiespalt hat im Lauf der Zeiten ebenso oft die Form eines vollständigen Unglaubens angenommen wie die der erneuten vollständigen Unterwerfung unter den Glauben, und seine heute häufigste Form ist wohl die, daß man überzeugt ist, ohne Geist gebe es kein rechtes menschliches Leben, mit zuviel Geist gebe es aber auch keines. Auf dieser Überzeugung ruht ganz und gar unsere Kultur. Sie achtet streng darauf, Geldmittel für Lehr- und Forschungstätten bereitzustellen, aber ja nicht zu große Geldmittel, sondern solche, die in einem angemessenen Kleinheitsverhältnis zu den Beträgen stehn, die sie für Vergnügungen, Automobile und Waffen ausgibt. Sie schafft auf allen Wegen freie Bahn dem Tüchtigen, aber sorgt vorsichtig dafür, daß er auch der Geschäftstüchtige sei. Sie anerkennt nach einigem Widerstand jede Idee, aber das kommt dann von selbst auch deren Gegenidee zugute. Das sieht so aus wie eine ungeheure Schwäche und Nachlässigkeit; aber es ist wohl auch ein ganz bewußtes Bemühen, den Geist wissen zu lassen, daß Geist nicht alles sei, denn würde auch nur ein einziges Mal mit einer der Ideen, die unser Leben bewegen, restlos, so daß von der Gegenidee nichts übrig bleibt, Ernst gemacht werden, unsere Kultur wäre wohl nicht mehr unsere Kultur!

Der Mann ohne Eigenschaften, 108: Die unerlösten Nationen und General Stumms Gedanken über die Wortgruppe Erlösen.

In allen Zimmern brannten noch die Lampen, die Clarisse, als sie allein war, überall angezündet hatte, und der Überfluß des Lichts strömte zwischen den Wänden und Dingen hin und her, den dazwischen liegenden Raum mit einem fast lebenden Etwas ausfüllend. Und wahrscheinlich war es die in jeder schmerzlosen Müdigkeit enthaltene Zärtlichkeit, die das Gesamtgefühl seines Körpers veränderte, denn dieses immer vorhandene, wenn auch unbeachtete Selbstgefühl des Körpers, ohnehin ungenau begrenzt, ging in einen weicheren und weiteren Zustand über.

Der Mann ohne Eigenschaften, 123: Die Umkehrung

Er öffnete ein Fenster. Es war eine gleichgültige Luft draußen, eine Allerweltsmorgenluft mit den ersten anklingenden Geräuschen der Stadt. Während die Kühle seine Schläfen wusch, begann ihn die Abneigung des Europäers gegen Gefühlsduselei mit ihrer klaren Härte zu erfüllen, und er nahm sich vor, dieser Geschichte, wenn es sein müßte, mit aller Exaktheit zu begegnen. Und doch hatte er, lange so am Fenster stehend und ohne Gedanken in den Morgen blickend, auch da noch etwas von dem blinkenden Vergleiten aller Empfindungen in sich.

Der Mann ohne Eigenschaften, 123: Die Umkehrung